Was mich nicht
umbringt …

Reflexionen aus der
Corona-Quarantäne
von Kewin Comploi

Was mich nicht umbringt …

…macht mich stärker. Dieses bekannte Zitat von Friedrich Nietzsche ist gerade dann en vogue, wenn wir von einer Krise geschüttelt werden. Resilienz, vereinfacht ausgedrückt die Anpassungsfähigkeit gegenüber Krisen, ist in aller Munde. Das implizite Versprechen lautet: aushalten, dann wirst du wie Phöenix aus der Asche steigen.  

Und tatsächlich: Forschungsergebnisse aus der Traumaforschung zeigen, dass auch nach erschütternden, traumatischen Erlebnissen sich ein sogenanntes posttraumatisches Wachstum einstellen kann (Buchempfehlung dazu: Was uns nicht umbringt von Stephen Joseph)Dazu später mehr… 

Kann aber dieses Resilienz-Konzept nicht auch kritisch gesehen werden? Fördert es nicht die Haltung, dass wir uns eben mit den Umständen arrangieren müssen, nichts daran ändern können? Der Krisenkapitalismus reibt sich die Hände 

Dank sei Corona?! 

Ab dem 26.12.2020 hab ich meine Wohnung nicht mehr verlassen. Meine Welt besteht seit dem positiven Corona-Test meines Mannes aus 42mplus einem BalkonAnfangs war ich negativ getestet worden, nach 10 Tagen Quarantäne aber positiv, meine Quarantäne dauert nun also mindestens 21 Tage.  

Die ersten Tage waren vor allem von Sorge um die Gesundheit meines Partners geprägt – der Anblick meines Mannes, der mit bald 40 Grad Fieber den ganzen Tag schwach im Bett liegt, hat bei mir einige Ängste ausgelöst. Muss er ins Krankenhaus? Wird es ein schwerer Verlauf? Was muss/kann ich tun?  

Plötzlich betraf mich dieses Virus nicht nur indirekt, weil ich beispielsweise immer wieder meine Seminar-Planungen umwerfen musste. Von einem Phänomen „da draußen“war “Corona” zu einer ganz realen Gefahr in meinem Wohnzimmer geworden.  

Da ist mir die Frage, die Alfred Strigl während des Pioneers Re-Connect im Oktober in die Runde von Absolvent*innen unserer Seminare und anderer Menschen, die uns nahestehen, in den Raum gestellt hat: Wofür bist du Corona dankbar?  

Nach einem Moment des Stirnrunzelns begann ein großes Sammeln, wofür die rund 50 Leute dankbar waren – und was für eine Ernte! Die Stille, die sich im ersten Lockdown aufs ganze Land gelegt hat; die Tiere, die sich wieder weiter in die „zivilisierte Welt“ reingewagt haben; der Zeitwohlstand; die Wertschätzung von Beziehungen, von Dingen und Umständen, die bis dahin als selbstverständlich gegolten haben, die Gelegenheiten hinter den Schwierigkeiten und vieles mehr… 

Konnte ich auch jetzt, in der Quarantäne, dankbar sein?   

Du kannst nicht für alles dankbar sein, aber jederzeit 

Dieser Spruch von Bruder David Steindl-Rast drückt die Essenz dessen aus, was ich in den letzten Wochen und Monaten verspürt habe:  

Nein, natürlich bin ich nicht dankbar, dass mein Mann krank war und ich Angst hatte. Natürlich bin ich nicht dankbar, dass ich meine Seminar-Planungen immer wieder über den Haufen werfen musste, dass viele Vorbereitungsstunden unnütz verpufft waren. Und natürlich war ich in jenen Momenten der Wut, der Ohnmacht, der Verzweiflung und Frustration nicht dankbar.  

Dankbarkeit war und ist aber auch ein Schlüssel aus diesen Momenten „wieder raus zu kommen“, das ganze Bild zu sehen und aus der eigenen Opfer-Haltung in eine Position der Handlungsfähigkeit und Verantwortung zu kommen.  

Denn es geht gerade nicht darum, sich den Umständen zu ergeben und solange die Zähne zusammenbeißen, es auszuhalten, bis es vorbei ist – wie manche Kritiker*innen des Resilienz-Begriffs, wie eingangs erwähnt, meinen. Sondern es geht darum, die Realität, das was ist, zu akzeptieren und darin die eigenen Handlungsspielräume zu erkennen.  

Glücklicherweise hat sich der Gesundheitszustand meines Mannes schon sehr bald gebessert und wir haben uns der Haltung hingegeben: Ja, es ist wie es ist und wir machen uns jetzt eine feine Zeit! Wir haben also gut gegessen, die gute Flasche Wein aufgemacht, gute Filme angeschaut, Karten gespielt, viel gekuschelt, Musik gehört und was wir sonst noch alles in unserer Wohnung machen konnten, was uns Freude bereitet und Kraft gibt – ja sogar wild getanzt! 😉 

Und ja: dafür bin ich dankbar. 

Es ist meine Entscheidung, wie ich die Situation bewerte 

Wofür ich wirklich sehr dankbar bin, ist der Zeitwohlstand, den mir Corona geschenkt hat. Ich habe so viele Bücher gelesen, wie schon lange nicht mehr! Unter anderem The Choice von Dr. Edith Eva Eger (auf Deutsch: Ich bin hier, und alles ist jetzt: Warum wir uns jederzeit für die Freiheit entscheiden können) 

Dr. Eger ist Holocaust-Überlebende und seit vielen Jahrzehnten als Psychologin tätig. Ähnlich wie Viktor Frankl schildert sie ihren Überlebenskampf in Auschwitz und was ihr die Kraft geschenkt hat, am Leben zu bleiben und mit dem Trauma nach der Befreiung umzugehen.   

Die Essenz lautet: Ich bin hier. Das ist das Jetzt. Ich habe jetzt und hier die Möglichkeit eine Entscheidung zu treffen: das anzunehmen, was passiert istwie ich es bewerte und was ich daraus mache. Und wenn ich mich entscheide, anderen die Schuld zu geben oder mir selbst, dann ist dies ebenfalls meine Entscheidung, ein Opfer der Umstände zu sein.  

Die Opferrolle kommt von innen. „Niemand außer Ihnen selbst kann Sie zu einem Opfer machen. Wir werden zum Opfer nicht durch das, was uns passiert, sondern dann, wenn wir an unserer Viktimisierung festhalten. Wir entwickeln eine Opfermentalität – eine Art, zu denken und zu sein, die unbeugsam ist, anklagend, pessimistisch, in der Vergangenheit festgefahren, unversöhnlich, strafend und ohne gesunde Beschränkungen und Grenzen. Wenn wir beschließen, in den Mauern unserer Opfermentalität zu bleiben, werden wir zu unserem eigenen Kerkermeister. (…)  

Ich rief mir in Erinnerung, dass ich dort war, um ihnen die wichtigste Wahrheit zu vermitteln, die ich kenne, nämlich dass das größte Gefängnis sich im eigenen Kopf befindet und dass jeder von uns den Schlüssel dazu schon in der Tasche hat: die Bereitschaft, die volle Verantwortung für sein Leben zu übernehmen; die Bereitschaft, zu riskieren; die Bereitschaft zu befreien und die Unschuld wieder einzufordern, sich so zu akzeptieren und zu lieben, wie man wirklich ist – menschlich, unvollständig und ganz.“ 

Posttraumatisches Wachstum 

In jeder krisenhaften Situation, ja in jedem Trauma, steckt also auch das Potential für Wachstum – wie das Sandkorn, das in der Auster zu einer Perle heranreift.  

Im eingangs erwähnten Buch von Stephen Joseph wird dies auf beeindruckende Weise beschrieben: ja, ein Trauma (hervorgerufen durch einen Unfall, einen Todesfall, Erfahrungen von Missbrauch uvm.) kann zu einer großen psychischen und physischen Belastung führen. Und ja, diese muss in vielen Fällen durch geeignete psychotherapeutische Begleitung entschärft und behandelt werden. DANN ABER, berichten die meisten Personen von Aspekten inneren Wachstums in Form von persönlichen oder philosophischen Veränderungen oder Veränderungen in den Beziehungen zu anderen Menschen. Posttraumatisches Wachstum zeigt sich also beispielsweise oft in der Wahrnehmung neuer innerer Stärken, die in der Folge dazu führen, dass man die Freiheit spürt, jetzt endlich einen lang begrabenen Traum verwirklichen zu können. Es stellt sich oft ein neues Gefühl dafür ein, was im Leben wirklich zähltOft sind es gerade Beziehungen zu anderen Menschen, die dadurch einen neuen Stellenwert und Wertschätzung bekommen. 

„Erfahrung ist nicht das, was einem geschieht. Erfahrung ist das, was man aus dem macht, was einem geschieht.“
Aldous Huxley

Alles klar?  

Wie so oft sind die Dinge im Leben simpel, aber nicht einfachEs ist viel leichter, vor dem schmerzlichen Ereignis durch Vermeidungsstrategien und Ablenkungsmanöver zu fliehen, innerlich zuzumachen. Es ist leichter den eigenen Schmerz, die Ohnmacht, die Angst nicht zu spüren, als sich dem hinzugeben, die eigene Verletzlichkeit zu fühlen.  

Sich diesen unangenehmen Seiten des Lebens zu stellen, birgt jedoch die Chancedas eigene Leben lebendig zu leben und unsere tiefsitzenden menschlichen Grundbedürfnisse von Freiheit & Autonomie und Verbundenheit & Geborgenheit zu befriedigen.  

Gerald Hüther beschreibt in seinem neuen Buch Wege aus der Angst drei VertrauensressourcenVertrauen in die eigenen Kompetenzen (Welche schwierigen Situationen habe ich bereits bewältigt?), Vertrauen, dass ich in meinem Umfeld Menschen habe, die mich unterstützen, wenn ich es nicht alleine schaffe und Vertrauen, dass „es wieder gut wird“. 

Ich merke geradewie mich meine eigenen Worte, dieses Thema, tief bewegenDa geht etwas in mir in Resonanz, wird greifbar, was ich als meine Intention meiner Arbeit bei den Pioneers of Change wahrnehmemich in einem Kreis der Lernenden gemeinsam auf eine Forschungs- und Bestärkungsreise aufzumachen; jenen Haltungen nachzugehen, die uns miteinander verbinden, uns Vertrauen in uns und ineinander schenken. Haltungen zu ergründendie uns selbst dienlich sind und uns ermächtigen, unseren Weg zu gehen – im Selbstermächtigungstraining RISE!, im Jahrestraining Lead the Change und im  bald startenden – Onlinekurs response.Ability 

Und ja: dafür bin ich auch dankbar! 

Über den Autor

Kewin Comploi ist Vorstand der Pioneers of Change in Österreich

>> mehr über Kewin

Mach dich mit uns auf den Weg! 

Ich möchte an dieser Stelle aus ganzem Herzen eine Einladung aussprechen: wenn du mit diesen Zeilen in Resonanz gegangen bist, wenn du dein Herz pumpern spürst, mach dich mit mir und uns auf den Weg! Denn gemeinsam gelingt vieles leichter.  

Eine Möglichkeit dazu bietet der Onlinekurs response.Ability, der am 25.1. startet! Darin erforschen wir viele Aspekte, die in diesem Blogartikel beschrieben worden sind. Dieser 7-wöchige Kurs ist ein Geschenk von uns an dich (Schenkökonomie plus Ernsthaftigkeits-Beitrag).

Sei dabei! ♥

 

Buchempfehlungen

Gerald Hüther: Wege aus der Angst. Über die Kunst, die Unvorhersehbarkeit des Lebens anzunehmen 

Dr. Edith Eva Eger: Ich bin hier, und alles ist jetzt: Warum wir uns jederzeit für die Freiheit entscheiden können.  

Stephen Joseph: Was uns nicht umbringt. Wie es Menschen gelingt, aus Schicksalsschlägen und traumatischen Erfahrungen gestärkt hervorzugehen. 

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